Der Bund vom 04.02.2002

Doppelte Uraufführung

THEATER / In einer fulminanten Inszenierung des Stadttheaters Bern wurde am Samstag auf der Kornhausbühne das über 200 Jahre alte Lustspiel "Der tugendhafte Taugenichts" von J.M.R.Lenz uraufgeführt.

cc. Das Fragment gebliebene Werk ist von Eberhard Köhler in einer Fassung inszeniert worden, die das Stadttheater dem deutschen Autor Christoph Hein in Auftrag gegeben hatte. In der Aufführung brillieren in einem einfallsreichen Bühnenbild von Ambrosius Humm neben anderen Stefan Suske (im Bild oben) und André Benndorff (unten) sowie Matthias Brambeer und die Sängerin Noe Ito.

Ein Spektakel um Edelmut und Höllenbrut

THEATER / Doppelte Uraufführung im Kornhaus: Christoph Hein begegnet den Sturm-und-Drang-Dichtern Ch.F.D. Schubart und J.M.R. Lenz und kreiert sodann eine eigene Komödie nach deren Geist, Gusto und Temperament.


von Charles Cornu

Da ist einmal der wild-geniale Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), der 1776 eine Komödie mit dem Titel "Der tugendhafte Taugenichts" angefangen, aber nie vollendet hat. Da ist sodann der andere, etwas ältere Sturm-und-Drang-Schriftsteller Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), der mit seiner Erzählung von zwei ungleichen Brüdern "Zur Geschichte des menschlichen Herzens" (1775) Lenz die Vorlage für seine Komödie (und übrigens einige Jahre später Schiller für seinen Erstling "Die Räuber") geliefert hat. Und da ist schließlich der 1944 in Schlesien geborene Dramatiker, Romancier und Essayist Christoph Hein, der in einer fiktiven Begegnung Schubart und Lenz aufeinander treffen lässt, jenen Lenz, der das Jahrhundert in die Schranken zu fordern gedenkt, und jenen Schubart, den eine zehnjährige Festungshaft gebrochen hat und der jetzt nur noch den Mäusen in seinem Hause nachstellt...


Plötzlich ist alles hochaktuell

Auf einmal jedoch, wenn der Abend im Kornhaus-Theater beginnt und die Uraufführung des Fragments von Lenz und der Komödie, die Hein im Auftrag des Stadttheaters Bern verfasst hat und die den ausschweifenden Titel "Zur Geschichte des menschlichen Herzens oder Herr Schubart erzählt Herrn Lenz einen Roman, der sich mitten unter uns zugetragen hat" trägt, anfängt - auf einmal ist einem die ganze literarhistorische Hintergründelei egal. Weil nämlich das, was jetzt anfängt und dann vorwärts drängt und sich kugelt und überschlägt, gegenwärtiges, pralles, saftiges, bunt geschecktes Theater ist, Theater mit allem Pomp und Glanz und Gloria und mit Rollen wie aus einem Märchenbuch, wo Tyrannen und holde Jungfrauen und sowohl böse als auch brave Buben ihrem Schicksal nicht entkommen.

Erst geht's noch vergleichsweise gesittet zu, wenn der stürmische Lenz den still gewordenen Schubart aufsucht. Zwar prallen da Welten gegeneinander, aber wie sich Schubart von der Genialität seines Besuchers überzeugen lässt und ihm sodann die Geschichte vom menschlichen Herzen zwecks Dramatisierung vorträgt, da sind die zwei bald einmal ein Herz und eine Seele, und rasch haben sie auch die Gunst und die volle Aufmerksamkeit des Publikums für sich gewonnen: Stefan Suske souverän und differenziert agierend wie immer als Schubart, André Benndorff, neu zum Ensemble gestoßen, vif, ausdrucksstark und heftig bewegt als Lenz. Die eigentliche Handlung setzt ein, indem Benndorff-Lenz die beiden gegensätzlichen Brüder wie Marionetten auf die Bühne trägt und sie dort zum Leben erweckt, nämlich den ehrlichen, aber lebenslustigen Carl (Malte Kühn) und den hinterlistigen, heuchlerischen Wilhelm (Henning Bochert). Ihr Vater, der Landedelmann Fels, ist so recht der Typ, an dem Lenz gerne sein rebellisches Mütchen gekühlt hat: patriarchalisch, autoritär, lüstern und launisch. Matthias Brambeer verleiht ihm die angemessenen Konturen. Wichtig schließlich für die Intrige und somit für das, was Lenz ein "Geschichtchen nach meinem Gusto" nennt, sind Carls Diener Johann (Marcus Signer) sowie die Sängerin Noe Ito als Brighella und der Violinist Roney Marczak als Musiker Schlankard.


Überzeugende Gesamtidee

Indessen, wichtiger noch als die einzelnen Rollen und deren Charakterisierungen ist das Gesamt der Darbietung, ist die leitende Idee, die das Ganze zusammen hält und zur Höhe führt, und ist nicht zuletzt auch die Durchgestaltung der Bühne, die jeweils im Nu und mit so überzeugenden wie witzigen Einfällen sich verwandeln lässt, mal Schriftsteller-Stube ist, mal Musiksaal und mal Schlachtfeld. Eberhard Köhler hat als Regisseur das bunte, turbulente und anforderungsreiche Geschehen voll im Griff, er lenkt es mit viel Witz und Geist und strategischem Überblick von Szene zu Szene. Das Bühnenbild von Ambrosius Humm erscheint nur anfangs einfach und leicht zu durchschauen. Mit der Zeit entwickelt es Finessen und Überraschungen, die, buchstäblich und in übertragenem Sinn, hintergründig und anspielungsreich sind, und das lässt sich ähnlich auch von den musikalischen Randbemerkungen von Michael Frei (zugleich Bedienter beim Baron) sagen. Die alte Geschichte vom menschlichen Herzen wird auf diese Weise zum überbordenden, komischen, phantastischen Spektakel. Sämtliche Mitwirkenden - so auch der Autor Christoph Hein, der sich bescheiden im Hintergrund hielt -durften darum nach der Premiere allerherzlichsten Beifall entgegennehmen.




Musikalischer Abend bei Baron Fels im Bühnenbild von Ambrosius Humm. J. Müller/zv








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